Alexandra Lüthen
Literatur

Das Herz ist eine Bohne in einer dunklen Kiste und Insta sein Tempel

Erster Platz im Wettbewerb um den Kinder- und Jugendliteraturpreis "Eberhard"

Das Herz ist eine Bohne in einer dunklen Kiste und Insta ein Tempel

 

„Zoe! Zooo-eee! Mach die Tür auf! Mach endlich die Tür auf! Mach! Jetzt! Auf!“ Meine kleine Schwester. Ich drehte mich im Bett um. Schob die Plug-ins noch ein bisschen tiefer ins Ohr.
Es hämmerte gegen die Tür. Dann Stille. Mama hatte Lori wohl von der Tür weggezerrt. Gut so. Ich war nicht zu sprechen. Für niemanden. Nie mehr. 14 Monate war ich mit Luke zusammen gewesen. Und dann kam Georgina. Luke hatte es mir nicht mal gesagt. Oder doch, er hatte mir eine Sprachnachricht geschickt. „Sorry, Zoe, tut mir echt leid, aber ich kann es nicht ändern. Wünsch dir einen schönen Sommer, sorry, echt...“ Wenigstens waren
ab Montag Sommerferien und ich würde sechs Wochen lang nicht die verlogenen Gesichter von Luke und Georgina sehen müssen. Und bis dahin würde ich genau hier bleiben: In meinem Bett. 

(Eberhard kam nach der Preisverleihung gleich mit nach Hiddensee!)

Abends stand mein Essen vor der Tür. Auf dem Blümchen-Tablett, das wir
immer bekamen, wenn wir krank waren. War ich krank? Toasthäppchen, Cola, ein Riegel
Schokolade und Lori hatte ein Bild gemalt mit einem großen Mädchen und einem kleinen
Mädchen, Hand in Hand mit vielen Herzen. „Libe ZOE ich vermise dich kom balt raus bite
LORI“ Lori ist erst seit dem letzten Sommer in der Schule. Als Lori geboren wurde, war ich
schon zehn. Ich weiß alles von Lori. Sie weiß eine Menge von mir. Aber das jetzt, das kann
sie nicht verstehen. Ich verstehe es ja selbst nicht. Um elf klopfte es wieder an der Tür.
Leise. Mamaklopfen. „Zoe? Schlaf ein bisschen, ja? Wenn was ist, komm einfach
rüber.“ Mama schläft im Wohnzimmer, immer schon. Drei Zimmer, drei Leute, das geht
schon. Aber es ist eng. Mein Zimmer ist klein und Loris ist winzig und Mama hat nur nachts
das Wohnzimmer für sich alleine.
Wir leben hier, seit ich vier bin. Mein Vater war, na ja... problematisch. Daran kann sogar ich
mich erinnern. In einer Nacht, als es besonders schlimm war, ist Mama mit mir und ohne
alles einfach abgehauen. Unser Leben fing endlich an geradeaus zu laufen. Und dann ist uns
Lori passiert, weil Mama sich mit Maik getroffen hatte und gleich nochmal schwanger
geworden ist. Maik, Loris Vater, ist supernett. Supernett reicht leider nicht für Liebe, hatte
Mama mir damals gesagt. Lori ist wie eine Figur aus dem Ü-Ei, klein und lustig und macht
gute Laune. Alle zwei Wochen ist sie bei Maik. Mama und ich sind dann eher WG als
Familie. Mama ist dann wieder Caro, sie geht aus und kommt spät nach Hause oder gar
nicht und das ist für mich völlig okay, weil ich die Wohnung dann für mich alleine habe. Für
die Sommerferien war eigentlich geplant, dass ich mit Luke und einem Zelt mit dem Fahrrad
durch Brandenburg fahren würde. Jetzt blieb ich eben hier. Wie jedes Jahr. Urlaub auf dem
Balkon. Den wir leider auch nicht haben. Wir haben ein Küchenfenster, das geht vorn zur
Straße raus, vier Spuren Autos und in der Mitte zweimal Straßenbahn, und auf dem
Fensterbrett steht Basilikum und manchmal Minze. Das ist quasi unser Garten. In meinem
Zimmer steht ein Kaktus, keine Ahnung, ob der überhaupt noch lebt, und Lori hat aus der
Schule gerade eine Bohne mitgebracht, die man in einem Schuhkarton durch ein Labyrinth
keimen lassen sollte. Wir hatten natürlich zu spät angefangen mit dem Experiment und
haben Loris Bohne dann in voller Sonne über der aufgedrehten Heizung wachsen lassen und
nachträglich die Ranke ins Labyrinth sortiert. Lori ist schlau. Die versteht auch so, wie
Bohnen wachsen.
Zur Zeugnisausgabe ging ich genau um 11.25 Uhr hin, mit einer Entschuldigung für die
ganze letzte Woche wegen Kopfschmerzen. Eigentlich Herzbruch, aber das kann man so
nicht schreiben und geht auch keinen was an. Ich wartete hinter dem staubigen
Plastik-
Grünzeug im Kübel, bis meine Klasse raus war und Frau Martens alleine im Klassenzimmer.

Es war zwar blöd, aber trotzdem besser als mir Luke und Georgina anzutun. Frau Martens

räumte im Klassenzimmer rum. Ich klopfte an die offene Tür. „Ach, Zoe! Bist du doch
gekommen, das ist super, dann liegt das Zeugnis nicht ewig im Sekretariat. Ist ganz
ordentlich geworden, kannst stolz auf dich sein!“ Sie gab mir das Zeugnis, ich steckte es
ohne einen Blick darauf in meine Mappe. „Danke“, sagte ich dann doch. Höflichkeit und so.
Und außerdem mochte ich die Martens. „Dir geht´s wirklich nicht gut, was?“, fragte sie und
guckte mich so mamamäßig an, dass ich schnell umschalten musste, um nicht gleich wieder
loszuheulen. „Geht schon“, sagte ich und wollte los. „Wart mal kurz“, sagte die Martens und
hob einen Karton auf das Lehrerpult. „Ich hab mit der Fünften in Bio dieses
Bohnenexperiment gemacht. Die sollten das eigentlich mitnehmen, aber da hat gestern
keiner dran gedacht und heute waren sie Eis essen und haben die Zeugnisausgabe in der
Eisdiele gemacht...“, Frau Martens verdrehte die Augen, „Jedenfalls, ich habe jetzt auch
Ferien. Ich kann unmöglich Bohnen mit nach Gran Canaria nehmen. Ich schenke sie dir! Für
einen tollen Sommer!“ Ich sah sie entgeistert an. Tolles Geschenk... eine Kiste
Experimentebohnen. „Wir haben schon eine Bohne...“, sagte ich lahm. „Super!“, sagte Frau
Martens, nahm mir die Zeugnismappe aus der Hand und legte sie in die Kiste, „Dann kennst
du dich ja aus. Ich wusste, du bist die Richtige! Und Bohnen...“, jetzt zwinkerte sie mir
verschwörerisch zu, „...Bohnen erinnern uns daran, dass man selbst aus den dunkelsten
Kisten wieder ins Licht wächst. Ich glaube, das kannst du gerade brauchen. Luke und
Georgina, ja?“ Bevor sie weiter reden konnte, nahm ich die verdammte Kiste, die sie mir jetzt
entgegenhielt und verschwand, so schnell ich das mit den ganzen Bohnen konnte. „Vielleicht
bringst du im kommenden Schuljahr ja eine Bohnensuppe mit für die Klasse?“, rief sie mir
noch hinterher und „Schöne Ferien! Lass dir nicht den Sommer verderben! Sei wie die
Bohne!“ Ich hörte sie noch bis zur Zwischentür. Die hatte doch einen Knall! Ich würde die
Bohnen genau bis zum Fahrradständer tragen. Da stand ein Mülleimer. Das war ein gutes
Feriendomizil für Bohnen. Konnten sie ja dann raus wachsen, wenn es ihnen zu blöd war da
drin. Der Mülleimer war zu klein für die Kiste. Außerdem stand da der Hausmeister. Ich hatte
echt keinen Nerv für weitere Gespräche, ich wollte nur noch nach Hause. Also klemmte ich
die Kiste auf den Gepäckträger, Expander drüber, nichts wie weg. Das Fahrradfahren tat gut.
Das erste Mal seit über einer Woche fühlte es sich so an, als könnte ich vielleicht überleben.
Vielleicht. Und mit dem Treten in die Pedale spürte ich auch immer mehr Wut. Was bildete
sich Luke eigentlich ein? Nicht mit mir! Ich würde mir meinen eigenen Sommer machen.
Lori wartete schon auf mich. Saß auf den Stufen vor dem Haus wie ein kleiner Hund und
rannte auf mich zu. „Zoe! Zoe, Zoe, Zoe! Du bist wieder da! Gehen wir Eis essen? Ich hab
noch Geld von Oma! Nicht wieder in dein Zimmer! Bitte! Zoe! Ich hab dich so vermisst!“ Und
dann heulte das kleine Ding doch tatsächlich. Hing an meinem Hals und schluchzte, als ob
ich auf Weltreise gewesen wäre. „Hey...“, sagte ich, „Hey, hey, hey, kleines Mädchen... lass
mich doch erstmal absteigen... tut mir leid, dass ich mich so verkrochen habe, aber mir ging
es echt mies die letzten Tage“ – „Aber jetzt geht es dir besser, oder? Du verschwindest nicht
wieder in deinem Zimmer, oder? Ich muss nicht die ganzen Ferien alleine sein, oder?“, Lori
blinzelte mich an. Mit nassen Augen. Mann, Mann, Mann! Konnte man nicht mal in Ruhe
Liebeskummer haben in dieser Familie? „Mir geht es besser“, sagte ich, „Wir lassen uns den
Sommer nicht versauen. Natürlich nicht. Luke ist ein Arsch und kann mich mal. Wir machen
was ganz Tolles, versprochen“ Lori lächelte schon wieder ein bisschen. „Du hast eine
Überraschung für mich, stimmt´s?“, fragte sie und in ihren Augen blitzte es, wie immer, wenn
sie sich freute. Lori liebte Überraschungen. Sie guckte zur Kiste auf meinem Gepäckträger.
„Oh“, sagte ich, „Das? Das ist eigentlich...“ Lori hüpfte jetzt auf und ab und klatschte in die
Hände. Manchmal war sie schon noch sehr klein... „Ja, also, genau“, sagte ich jetzt, „Das ist
unser Sommerprojekt. Wir, äh, wir werden...“ Ich wusste nicht genau, was wir werden
würden, aber Lori: „Wir werden Influencerinnen!“, rief sie. Lori darf eigentlich nicht ins
Internet. Aber natürlich macht sie es trotzdem. Und sie liebt Instagram. Lichterketten, bunte
Klamotten, Pampasgras, der ganze Kram. Ich hab meinen Account eigentlich nur zum
Gucken und stelle selber nichts online. Aber vielleicht würde sich das jetzt ändern.
Influencerin, genau. Ich würde mein Leben jetzt influencen. Mit Bohnen. Lori hüpfte immer
noch wie ein Flummi. „Sag schon!“, rief sie, „Sag schon, sag schon, sag schon! Was machen
wir?“ – „Bohnen“, sagte ich, „Wir machen Bohnen-Content. Bohnen sind total stylish. Quasi
so Lichterketten in grün und ohne Strom. Wir sind die green girls, die green guerilla girls und
wir werden die ganze Stadt mit Bohnen bombardieren und unser Herz mit grünen Ranken
umwuchern und dann übernehmen wir die Weltherrschaft und verbieten das Verlieben in
andere als uns! Was sagst du?“ - „Das mit der Weltherrschaft finde ich gut!“, sagte Lori,
„Kann ich dann auch ein größeres Zimmer haben?“ – „Klar“, sagte ich, „wir brauchen sowieso
mehr Platz. Guck mal!“ Dann hob ich die Kiste vom Gepäckträger und machte sie auf. Lori
kreischte begeistert. „Cool! So viele! Wo pflanzen wir die ein?“ - „Keine Ahnung“, sagte ich,
„Fensterbank? Badewanne?“ Lori stöhnte: „Mann, Zoe, wir haben nicht mal ne Badewanne.
Und Bohnen in der Dusche? Dein Ernst?“ – „Hof 3!“, sagte ich nur. Unser Haus ist nämlich
eines von den ganz alten und die hat man damals, also vor hundert Jahren oder so, so
gebaut, dass die Höfe alle miteinander verbunden waren. Hinter den Häusern kann man von
Hof zu Hof durchlaufen und kommt dann hinten an einer anderen Straße wieder raus. Unser
Hof ist Hof 1. Am nächsten zur Straße, klein und hässlich. Auf Hof 2 sind eine Menge
Teppichstangen, auch noch von vorm Krieg, als es noch keine Staubsauger gab und eine
olle Schaukel, die aber schief hängt und einen Sandkasten, in den die Katzen reinmachen. In
Hof 3 war ich ewig nicht gewesen. Aber im Treppenhaus hing schon seit Wochen ein
penetrant fröhlicher Zettel: „Projekt Hofgarten! Wer macht mit? Meldet euch bei Doris Larisch
aus Haus 3! Wir wecken den alten Garten aus dem Dornröschenschlaf! Mitzubringen: Gute
Laune und eine Schaufel!“ Na ja. Mit guter Laune konnte ich nicht punkten. Schaufel auch
nicht. Aber eine Kiste Bohnen. Das galt auch, fand ich. Wir liefen also zu Hof 3. Die Häuser
standen hier weiter auseinander. Es war sonnig. In der Mitte stand ein kleineres Haus, das
ehemalige Gartenhaus. Da hatte vorm Krieg, wie die olle Maschurke immer sagte, mal ein
Gärtner gelebt. Dann war da lange gar nichts mehr gewesen, aber jetzt war hier alles voll mit
Erde und einem Zaun und überhaupt sah es ganz anders aus. Eine Frau verteilte mit einer
Schaufel die Erde von dem riesigen Haufen auf kleine Beete. Vor dem Gartenhaus stand
eine neue Bank und dieser weiße Zaun. Als ob wir gerade in ein Bilderbuch hinein spaziert
waren. „Hallo!“, rief die Frau uns zu, „Ihr wollt mitmachen? Das sind ja tolle Pflanzen, super
vorgezogen, das geht jetzt ratzfatz!“ – „Äh“, sagte ich, „Also, wir wollten eigentlich nur die
Bohnen...“ – „Ihr könnt das Beet beim Gartenhaus haben! Guckt mal, da an der Seite sind
Rankhilfen! Ich helfe euch gleich, muss nur noch hier die Erde verteilen. Kleine
Pflanzschaufeln sind da unter der Bank in dem Korb!“ - „Du bist so cool!“, rief Lori und sah
mich voller Bewunderung an, „Wie hast du das geschafft, das die ganze Zeit geheim zu
halten? Das ist so, so toll! Das ist die beste Sommerüberraschung überhaupt! Soll ich mich
vor die Kiste stellen und du machst ein Foto?“ Sie hüpfte zur Bohnenkiste, nahm sich einen
Topf heraus und posierte vor dem Rankgitter. „Aber ohne Gesicht!“, sagte ich zu Lori, „Denk
dran, du bist viel zu klein für Instagram! Mama macht mich fertig, wenn sie das
mitkriegt.“ Lori lachte: „Wir sind doch total geheim, wir sind die green gorillas, hast du doch
gesagt!“ – „Guerillas! Das heißt wir sind kleine Kämpfer...“ – „Gorillas!“, rief Lori, „Groß sind
wir! Und außerdem lieben Gorillas Bohnen!“ – „Okay, meinetwegen, green gorillas, ich mach
uns einen neuen Account...“ Jetzt hatte ich die Sache angefangen, dann konnte ich es auch
richtig machen. Nach einer Woche wären die Bohnen vermutlich sowieso eingegangen und
Lori hätte die Lust verloren. Aber bis dahin - sie freute sich so - machte ich eben mit. Und
dann pflanzten wir tatsächlich die Bohnen ins Beet. Die Frau mit der Schaufel kam zu uns
rüber und sagte, sie wäre „die Doris“ und hätte das Gartenprojekt bei der Hausverwaltung
durchgeboxt und sie würde sich freuen, dass „die jungen Leute“ jetzt mitmachen. Also, wenn
jemand „junge Leute“ sagt, da wird mir schon schlecht, aber Doris freute sich ganz in echt.
Sie half uns mit den Rankgittern und, darauf war Lori dann richtig stolz, sie stellte ein Schild
in unserem Beet auf: „Green Gorillas“. Das fotografierte ich natürlich auch noch. „Bis
morgen!“, sagte Doris, als wir fertig waren. Lori strahlte.
Sommerferien, das hieß eigentlich ausschlafen bis zum Mittag. Stattdessen stand am
nächsten Morgen Lori bereits um halb sieben vor meinem Bett. „Lass uns in den Garten
gehen!“, flüsterte sie mit durchdringender Lautstärke direkt in mein Ohr. „Mann, Lori, lass
mich in Ruhe, die Bohnen schlafen bestimmt auch noch! Geh wieder ins Bett...“ Ich erschrak
fast zu Tode, als ich die Augen aufmachte. Direkt vor meinem Gesicht war eine Gorillafratze.
Lori hatte in der Faschingskiste gewühlt. Passend dazu trug sie ein Punkrock-Shirt von
Mama als Kleid und Gummistiefel. Und sie gab nicht auf. „Bohnen sind Frühaufsteher!“,
sagte sie, „Und wir brauchen Content mit Sonnenaufgang. Das macht QueenGreen von
Instagram auch so!“ – „Hast du schon wieder das Tablet gemopst?“, fragte ich, aber Lori zog
schon an meiner Bettdecke. Ich quälte mich aus dem Bett. Und staunte. Lori musste schon
ewig auf sein. Sie hatte Brote geschmiert und eine Saftflasche, Teller und Gläser in unseren
Einkaufskorb gepackt. „Lo-hos, Zoe! Komm schon!“ Ich zog mir irgendwas über und dann
schlichen wir uns aus der Wohnung. Mit Mama war vor Mittag ohnehin nicht zu rechnen.
Samstag war der Tag, an dem sie den Schlaf der gesamten Woche nachholte, sagte sie
immer. Beim Garten war noch nichts los. Die Bohnen allerdings, da hatte Lori recht gehabt,
waren wirklich Frühaufsteher, oder nachtaktiv, was weiß ich. Jedenfalls waren sie wohl froh
gewesen, aus dem muffigen Klassenzimmer raus zu kommen, und hatten die Kletterhilfen
sofort in Beschlag genommen. Es sah aus, als wären sie schon wochenlang hier gewachsen,
so ordentlich ringelten sie sich um die Metallstäbe. Wir machten erst Wasser-Frühstück für
die Bohnen, dann Foto-Frühstück für Insta, dann frühstückten wir wirklich. Lori guckte
verträumt über die Beete. Die Kleine. Ganz schön groß geworden. „An was denkst du?“,
fragte ich sie und sie atmete ganz tief ein und seufzte dann. „Ich denke gerade“, sagte sie,
„wie wunderwunderschön das Leben ist. Zoe, das wird ein Zaubersommer. Ich habs im
linken Zeh!“ Lori hatte natürlich gar nichts im linken Zeh. Das war ein Spruch von Oma Inge.
Seit ihrem Beinbruch vor ein paar Jahren, behauptete Oma Inge, ihr Zeh hätte hellseherische
Kräfte entwickelt. Er würde sie kitzeln, bevor etwas Gutes geschehen würde. Lori träumte
weiter vor sich hin: „Etwas Gutes, etwas Großes, etwas sehr, sehr Glückliches! Ha! Jetzt
kitzelt es wie verrückt!“ – „Zieh mal den Gummistiefel aus“, sagte ich und als Lori ihren Fuß
rauszog, krabbelte ein erleichterter Marienkäfer in Richtung Knöchel und machte einen
eiligen Abflug. Ich lachte: „Toller Zeh! Der einzige, der hier gerade Glück hatte, war der
Käfer!“ Aber Lori blieb ernst. „Es kitzelt immer noch, Zoe. Und Marienkäfer bringen extra
Glück, das weiß jeder!“ „Wahrscheinlich hast du Fußpilz...“, sagte ich und Lori streckte mir
die Zunge raus: „Du bist doof!“ Ich wollte nicht streiten mit Lori. Ich konnte mich noch gut an
mich selbst mit sieben erinnern. Da war alles möglich.
Es war eigentlich total bescheuert. Das hätte mein erster fast-erwachsen-Urlaub mit Freund
und Fahrrad und Zelt werden sollen. Stattdessen hatte ich jetzt Lori an der Backe, die sich
weigerte, in die Ferienbetreuung zu gehen, weil sie schließlich selbst einen Garten zu
betreuen hätte und außerdem lieber bei mir blieb. Und natürlich diese Bohnen, die die
Martens mit der Fünften wahrscheinlich genmanipuliert hatte, so wie das Zeug in die Höhe
wuchs. Eigentlich wollte ich das alles blöd finden und Lori abwimmeln und vielleicht mit
Marita was ausmachen, ob die mit mir vielleicht spontan irgendwo campen wollte. Aber es
war seltsam. Ich schob es jeden Tag wieder auf den nächsten, dann auf die kommende
Woche, dann auf die danach. Mein Herz humpelte immer noch so herum, wie Oma Inge
nach dem Beinbruch. Ich guckte mir ja auch ungefähr hundert Mal am Tag die Fotos von
Luke und mir an, damit der Schmerz frisch blieb... Aber, und das hatte ich Lori zu verdanken,
die Galerie füllte sich mit anderen Fotos. Bohnenbildern und welche von anderem Grünzeug,
was Doris da vorher schon angepflanzt hatte. Um ehrlich zu sein, Mama kaufte zwar, wenn´s
irgendwie ging, ALDI-bio und unser Duschgel war von Alverde, aber ob das jetzt
Kartoffelpflanzen waren oder aus den grünen Beeren zwischen den Blättern doch Tomaten
wurden – davon hatte ich echt null Plan gehabt. Wahrscheinlich lag es auch an Lori, die mit
Gorillamaske und in Gummistiefeln irgendwas zwischen absurd und niedlich aussah, dass
unser Instagram-Account immer mehr Follower hatte. Lori zwang mich sogar, mein
Smartphone einen ganzen Tag von sechs Uhr morgens bis neun Uhr abends auf einem
Stativ vor einer der Bohnenknospen aufzustellen und ungelogen alle zehn Minuten ein Foto
zu machen. Unser Zeitraffer-Video davon bekam ich dann selbst von einer Freundin
zugeschickt: „Guck mal GreenGorillas, voll schön!!!“ – „Ja, kenn ich schon“, schrieb ich
zurück. Ich hatte echt keine Lust, dass ich nach den Sommerferien das Gorilla-Girl an
unserer Schule wäre.
Im Garten war irgendwie immer was zu tun. Nicht den ganzen Tag natürlich, oft lag ich in der
Hängematte, die Doris zwischen zwei Teppichstangen aufgehängt hatte, guckte Videos oder
las etwas. Aber Lori war nicht aus den Beeten raus zu kriegen. Mama war erst skeptisch
gewesen, was das da sollte mit dem Hofgarten, kam jetzt aber selber nach der Arbeit oft
runter und setzte sich mit ihrer Flasche Wein auf die Gartenbank. Und dann setzte sich Doris
dazu oder die alte Maschurke, die von Haus 2 rübergeschlurft kam. Ich konnte die erst nicht
leiden, aber sie wusste echt viel über Pflanzen. Als die Bohnen Läuse hatten, wäre Lori fast
ausgerastet. Das Green Gorilla Projekt kurz vor dem Aus! Das durfte nicht passieren. Aber
die alte Maschurke ging mit Lori Brennnesseln suchen, davon gab es in Hof 4 reichlich und
dann setzten die beiden eine Jauche an, die stank so dermaßen, dass die Blattläuse schon
vom Windhauch tot umfallen mussten. Natürlich wurde auch das alles für Insta dokumentiert,
wie Lori mit Gorilla-Face und einer Pflanzenspritze gegen die Läuse fightete. Und Doris hatte
einen weiteren Deal mit der Hausverwaltung gemacht: Wir bekamen den Schlüssel zum alten
Gartenhaus. Ein dicker, schwerer, hundert Jahre alter Schlüssel. Durch die blinden Fenster
7
hatten wir nicht hinein sehen können, aber als Doris die Tür aufschloss, wurde uns klar, dass
das Häuschen wirklich komplett vergessen worden war. Diese Zeitreise brachte uns dann
endgültig den Durchbruch auf Instagram: „Sie öffnen eine hundert Jahre alte Tür. Du ahnst
nicht, was sie dahinter gefunden haben...“ Und wir hatten hier ganz in echt und ohne
Clickbaiting eine vor ungefähr 70 Jahren verlassene Wohnung. Alles stand noch so, wie es
der Gärtner verlassen hatte. Zuerst trauten wir uns gar nicht, etwas anzufassen oder zu
verändern, aber dann fing Doris an Staub zu wischen und Mama nahm die alten Gardinen
mit für die Waschmaschine und Lori klopfte mit dem originalen Teppichklopfer den Staub von
hundert Jahren aus den Teppichen. Es gab eine kleine Küche mit einer Kochmaschine und
als wir das verlassene Krähennest aus dem Schornstein entfernt hatten, heizten wir den
Ofen an und die alte Maschurke zeigte uns, wie das ging mit den Eisenringen. Wir fühlten
uns wie im Puppenhaus, es gab eine kleine Stube und ein weiteres Zimmer mit einem Bett,
das der Gärtner vielleicht selbst gezimmert hatte. 1918 war in das Kopfteil geschnitzt. Strom
gab es nicht, aber wie durch ein Wunder waren die Wasserleitungen intakt geblieben. Wir
guckten aus den frisch geputzten Fenstern, die alte Maschurke hatte Lori Zeitungspapier und
einen derbe stinkenden Spiritus gegeben, das wäre das beste für alte Fenster. Lori hatte
geputzt wie verrückt. Wenn man die Augen ein bisschen zukniff und das Licht stimmte,
konnte man wirklich glauben, es wäre wieder 1918 und wir die Töchter des Gärtners. Und als
ich dann mal wieder die Fotos mit Luke durchklickte, fühlte sich das endlich auch fast so an
wie hundert Jahre her. Und dann kamen die Bohnen. Dick und fett und grün. Wir freuten uns,
die Follower feierten. Aber, auch klar: Wenn die Bohnen reif sind, sind die Ferien fast vorbei.
Am letzten Ferienwochenende bestand Lori darauf, im Gartenhäuschen zu übernachten.
„Bitte! Zoe passt auf mich auf!“ Ich sah sie mit großen Augen an. Aber wenn Lori was will, ist
nichts zu machen. Also zogen wir mit unserer Besuchermatratze ins Gartenhaus um. Die alte
Strohpolsterung war toll für Instagram, zum drauf schlafen aber doch zu authentisch. Es war
ein bisschen eng zu zweit im Bett, aber irgendwie auch schön. „Guck mal, Zoe!“, flüsterte
Lori da und zeigte nach oben. Durch die Fensterluke im Dach stand der Mond, als wüsste er
genau, wie man bei Instagram gut ankommt. Wir machten kein Foto. Denn jetzt gerade
waren wir nicht die Green Gorillas. Sondern nur zwei Schwestern, die eine Kiste mit
Zauberbohnen geschenkt bekommen hatten, aus denen der beste Sommer gewachsen war.
Lori hatte nicht nur ein größeres Zimmer, sondern ein ganzes Haus bekommen. Und mein
Herz war im Schutz der Bohnenranken wieder so heil geworden, dass ich mindestens die
Weltherrschaft übernehmen konnte. Aber eigentlich reichte mir mein eigenes Leben. Das
eigentlich ziemlich zauberhaft war. Genau so, wie es Loris hellseherischer Zeh vorhergesagt
hatte.