Alexandra Lüthen
Literatur

Veröffentlicht unter dem Titel "Herzliebe" in "Gerettet", Lebenshilfe Verlag, 

ISBN 978 - 3 - 88617 - 566 - 6


HERZLINIEN


Ich bin Feli. Felicitas. Das ist ein alter Name. Er bedeutet: Glück. Ich bin nicht so alt wie der Name. Ich bin 21 und habe das Leben noch vor mir. So sagt man.

Ich habe auch schon viel Leben hinter mir. Das kann man lesen. In Arzt-Berichten. Es gibt so viele Berichte über mich. Die Ordner stehen im Regal neben den Foto-Alben. Auf den Fotos sieht man mich als Baby. Ganz klein. Ich bin viel zu früh auf die Welt gekommen. Ich konnte es wohl nicht abwarten mit meinem Leben anzufangen. Die ersten Fotos sind von mir in einem Krankenhaus. In meinem Gesicht klebt ein Schlauch. Das Klebe-Pflaster sieht aus wie ein Herz auf meiner Wange. Das haben die Pfleger im Krankenhaus so gemacht. Weil es das Netteste ist, was man tun kann. Wenn ein Baby es schwer hat und Schmerzen. Dann klebt man Liebe auf die Haut. Auf mein Herz konnte man kein Pflaster kleben. Das musste operiert werden. Und in Ruhe heilen, tief in mir drin. Das hat es gemacht. Aber es ist nie ganz gesund geworden. Das war okay. Jeder hat irgendwas, das nicht ganz gesund ist.

Nach den Babyfotos kommen viele ohne Pflaster. Wie ich laufen lerne. Wie ich Brei esse. Und dabei mit dem Gesicht in der Brei-Schüssel eingeschlafen bin. Dann wieder Krankenhaus-Fotos. Das Herz musste nochmal operiert werden. Danach kam ein Clown an mein Bett. Um mich zum Lachen zu bringen. Ich weine. Weil ich immer Angst vor Clowns hatte. Und einfach nicht gern im Krankenhaus war. Clowns hin oder her. Geschenke hin oder her. Als Kind bekommt man nämlich viele Geschenke, wenn man im Krankenhaus ist. Sonst kann man ja kaum was tun.

Und so ist es jetzt auch. Ich bin wieder im Krankenhaus. Seit 5 Monaten. Man kann kaum was tun. Nur warten. Mein Herz hat genug getan. Es schlägt nicht mehr von alleine. Mein Herz ist viel älter als ich selbst. Uralt. Deshalb hat es eine Maschine bekommen. Nagelneu. Die nagelneue Maschine stupst das uralte Herz an, wenn es vergisst, dass es schlagen soll. Mit einem *dibbs*, so stelle ich mir das vor. Mein Herz wird immer schusseliger. Wie mein Uropa. Der fragt auch immer: „Was wollte ich denn gerade machen? Ach ja!“ So ist das auch in mir drin. Das Herz fragt: „Was wollte ich denn gerade machen?“ und die Maschine sagt: „Schlagen wolltest Du“ und zeigt es dem Herz: *dibbs*

Wir machen Untersuchungen mit Geräten. Es gibt eins, das malt meinen Herzschlag. Eine lange Linie mit Auf und Ab und geraden Stücken dazwischen. Die Aufs und Abs sind nicht hoch und tief genug. Die geraden Stücke dazwischen nicht lang genug. Mein Herz hat angefangen schneller zu schlagen. Aber es pumpt das Blut nicht mehr so weit. Deshalb habe ich oft kalte Hände und Füße. Auch wenn es im Zimmer ganz warm ist. Ich habe blaue Lippen. Wie sonst, wenn man zu lange im See bleibt beim Schwimmen.

Wir haben viel versucht, um mein Herz munter zu machen. Es ist ein gutes Herz. Ich liebe es sehr. Es hat mir so viel Herzklopfen geschenkt. Wenn ich aufgeregt war. Wenn ich mich geärgert habe. Und als ich mich verliebt habe! Mein Gott, da ist es gerannt wie ein schnelles Pferd. Ich konnte es im ganzen Körper spüren. Alles ist warm geworden. Meine Wangen waren ganz heiß. Und meine Hände haben geschwitzt. Das hat alles mein Herz gemacht. Und deshalb liebe ich es.

Jetzt merke ich: Meine Hände bleiben kalt. Auch wenn ich verliebt bin. Ich ärgere mich auch noch. Aber mein Herz ist zu müde dafür. Es regt sich nicht mehr auf. Ich bin zum Streiten zu kaputt.

Die Ärzte können meine Liebe nicht sehen. Auch nicht meine Wut. Sie sehen nur die Linie, die aus dem Gerät kommt. Und haben mit mir gesprochen. Dass die Medikamente nicht mehr reichen. Dass die Maschine zu oft Anschwung geben muss. Dass ich ein neues Herz brauche. Meine Eltern waren bei dem Gespräch dabei. Sie haben geweint. „Wir dachten, es wäre jetzt gut!“, hat meine Mutter gesagt. „Sie haben gesagt, es ist alles in Ordnung!“, hat mein Vater gesagt. So wie er sich auch sonst beschwert. Bei der Auto-Werkstatt zum Beispiel. Wenn noch eine Extra-Reparatur nötig ist. Ein Körper ist aber kein Auto. Und eine Ärztin keine Mechanikerin. Mein Herz macht was es will. Und jetzt: macht es eben nicht mehr. Auch dafür liebe ich mein Herz. Es ist sehr eigen. Es sagt, wenn es müde ist. Und: es hat sich sehr bemüht. Es ist gewachsen. Das machen Herzen, wenn sie nicht mehr können. Sie werden größer. Sie tun ihr Bestes. Aber irgendwann hilft auch kein *dibbs* mehr.

Und deshalb bin ich jetzt schon lange im Krankenhaus. Es gibt zu wenig Herzen da draußen. Klar. Jeder braucht ja eins für sein Leben. Man kann niemandem eins weg nehmen. Man muss warten, bis eins frei wird. Das passiert nur, wenn jemand stirbt. Und vorher schon gesagt hat: „Einverstanden. Wenn ich mal sterbe, dann darf mein Herz woanders hin“

Das machen wenige Leute. Wir wollen lieber alles behalten. Auch wenn wir sterben. Das kann ich schon verstehen.

Aber selbst, wenn jemand sein Herz verschenken will. Dann ist es noch schwieriger als eine Liebe zu finden. Es reicht nicht, ein Herz gut zu finden. Nein. Man kann nicht eins nehmen, das ungefähr passt. Es muss genau passen. Logisch. Es soll ja für ein ganzes Leben reichen. Nicht nur für ein paar Tage. Es gibt eine Warte-Liste. Da wird man eingetragen. Und immer wenn ein Herz frei wird, gucken die Krankenhäuser auf der Liste nach. Nicht der ganz oben kriegt es. Sondern der, zu dem es gehört. Der am allerbesten passt. Denn Herzen sind wertvoll. Herzen sind Leben.

Es gibt auch andere Listen. Für Lebern und Lungen und Nieren und Kleinkram. Das brauche ich alles nicht. Nur ein Herz.

Ich liege hier den ganzen Tag herum und warte. Das ist Vorschrift. Man kriegt nur ein Herz, wenn man im Krankenhaus wartet. Damit man auch wirklich da ist, wenn eins kommt. Hier sind auch andere Leute auf der Station. Es ist eine Warte-Station in einem Warte-Krankenhaus. Wir essen zusammen Mittag und gucken abends Fernsehen. Wir warten alle. Operationen werden woanders gemacht. In der Charité. Das ist ein großes Krankenhaus.

Manchmal denke ich an unsere anderen Herzen. Auf die wir warten. Die sind nicht zusammen. Die machen ihr eigenes Ding. Wir kennen sie nicht. Sie sind unterwegs. Sie schmieren Schulbrote. Sie lesen vor. Sie gehen ins Büro. Manche Herzen tanzen. Andere fahren Motorrad. Sie leben das Leben wie es ist. Bis Schluss ist. Das bestimmt nicht das Herz. Sondern das Gehirn. Für das Gehirn gibt es auch ein Gerät. Das malt auch Linien. So ähnlich wie die Herz-Linie gibt es auch eine Hirn-Linie. Mit Wellen und zitternden Zacken. Wenn das Gehirn nicht mehr mitmacht, werden die Linien ganz gerade. Alle. Und dann weiß man: jetzt ist das Herz frei. Es braucht ein neues Zuhause. Damit es weiter schlagen kann.

Jetzt war Sommer. Ich habe mich geärgert. Ich warte ja schon so lange. Aber dann habe ich mir vorgestellt: Dass mein neues Herz gerade im Sommer draußen ist. Dass es noch ein anderes Leben lebt. Es gibt jemanden für den es jetzt gerade schlägt. Eine Frau wahrscheinlich. Ungefähr so groß wie ich, so schwer wie ich. Sie weiß nichts von mir. Sie ist nur einverstanden. Falls sie stirbt. Wann das so ist, bestimmt keiner. Das passiert eben. Mal passt es, weil jemand schon sehr alt ist. Mal passt es überhaupt nicht. Wenn jemand noch jung ist oder kleine Kinder hat. Ich wünsche mir auch nicht, dass jemand stirbt. Das wäre unfair. Ich bin einfach nur da. Falls es so ist. Damit das Herz, was sie verschenken will, mich finden kann. Ganz in Ruhe. Das ist wichtig. Ich will mein neues Herz nicht stressen. Ich hasse das, wenn mir jemand sagt: „Los, los, jetzt mach mal schnell!“ Ich lass mir lieber Zeit. Ich komm dann schon, wenn ich will. Und deshalb denke ich mir: Wenn das Herz zu mir passen soll, dann braucht es Zeit. So viel es will.

Was ich aber auch merke: So viel Zeit bleibt nicht. Ich kann nicht ewig warten. Denn mein altes Herz wird immer schwächer. Ich rede lieb mit ihm. Ich sage: „Nur ein bisschen noch. Bitte. Schlag doch ein bisschen langsamer. Aber bitte schlag weiter. Du bist müde. Ich versteh das. Aber ich bin noch nicht fertig mit meinem Leben. Ich will noch so viel. Ich will noch viele Sommer haben. Und viele Winter. Ich will Liebe haben. Und kalte Füße nur, wenn ich barfuß in der Küche stehe. Ich will wieder warm werden. Warm vor Wut und heiß vor Liebe. Komm, mach noch ein bisschen mit. Bitte, noch ein bisschen.“ Mein Herz antwortet nicht sofort. Es spricht nur noch wenig mit mir. Von sehr weit weg. Ich verstehe es trotzdem. Es flüstert: Ich – will – ja. Pause. Aber – ich – kann – nicht – mehr. Pausepausepause. Dann macht die Maschine wieder dibbs und es schlägt schweigend weiter. Und ich liege still da und bin vorsichtig. Es ist dunkel. Nachts habe ich noch mehr Zeit als tags. Nachts ist das Warten am längsten. Ich schlafe irgendwann ein. Und als ich morgens aufwache, da weiß ich: Jetzt wird es wirklich, wirklich Zeit. Sonst bin ich weg. Das kann man nicht beschreiben. Das weiß man, wenn es so ist.

Die Herzlinien müssen gerade werden. Ein Strich. Ein langer, langer Strich. Auf dem das neue Herz reisen kann. Es wird getragen. Es darf fliegen. Es wird wieder getragen. Der Strich kann viele Kilometer lang sein. Länder verbinden. Städte verbinden. Leben verbinden. Wenn das neue Herz ankommt, wird es begrüßt. Von meiner Herzkurve. Die dann auch ein Strich wird. Ein kurzer. Ein Schlussstrich. Dann wird es spannend. Wird die Linie wieder zur Kurve? Ich hoffe das sehr. Mit geraden Linien kann man nicht leben. Wir brauchen die Kurven. Das neue Herz setzt meine Linie fort. Langsam erst. Denn es ist kalt von der Reise. Dann wird es warm. Schlägt langsam schneller. Das ist mein Traum. Seit vielen Nächten.

Und dann war es soweit. Einfach so. Es war nachts. Die meisten Herzen kommen nachts. Warum auch immer. Die Ärztin stand an meinem Bett. Der Kranken-Pfleger. Noch ein Arzt. Noch ein Arzt. Und noch ein Arzt. Alle lächelten. Die Ärztin streichelte meine Hand. Die mal wieder kalt war. Die Ärztin sagte: „Aufwachen, Felicitas. Ihr Herz ist da. Wir fahren Sie jetzt rüber in die Charité.“

*dibbs* machte meine Maschine *dibbs*

Und ich dachte: Hoppla. Da hat es sich jetzt aber richtig erschrocken. Mein liebes Herz.

Ich legte meine Hand auf meine Brust. Ich streichelte darüber. Da sind schon viele Narben. Von den Operationen. Die Haut ist knubbelig und es fühlt sich anders an. Aber das machte nichts. Mein Herz hat es gut gespürt. Dass ich es durch die Haut gestreichelt habe. Und ich musste weinen. Ich musste so weinen. Weil ich traurig war. Weil es schwer ist, ein Herz abzugeben. Auch wenn es nicht mehr gut arbeitet.

Glücklich war ich auch. Weil ich wusste: Da ist ein Herz, das auf mich wartet. Da fahre ich jetzt hin. Und dann kommt es zu mir. Und wir fangen ein neues Leben an.

Und wieder traurig: Da ist jemand gestorben. Sonst wäre das Herz nicht frei. Bestimmt fehlt der jetzt jemand. Bestimmt sind die traurig.

Und wieder glücklich: Da stirbt nicht alles. Das Herz muss nicht mitsterben. Es darf weiter leben. Bei mir. Weil ich Platz dafür habe. Vielleicht freut es sich.

Meine Eltern kamen natürlich in die Charité. Auch wenn es mitten in der Nacht war. Und sie waren auch glücklich und traurig. Sie hatten Angst. Sie hatten Hoffnung. Ich glaube, bei den großen Dingen ist es immer so. Da reicht ein Gefühl nicht aus. Da braucht man alle.

Dann haben wir alles gemacht wie besprochen. Eine Menge Leute standen im Operations-Saal. Ich bekam eine Narkose. Und sollte an etwas Schönes denken. Ich dachte an zwei Herzen. Die miteinander tanzen. Dann schlief ich ein.

Als ich wieder wach wurde, guckte ich nach rechts. Da stand eine Maschine. Die malte meinen Herzschlag. Zick-Zack-Pause. Zick-Zack-Pause. Ich wusste sofort: So malt nur ein neues Herz. Ich legte meine Hand auf meine Brust. Schwierig. An meiner Hand war ein Schlauch. Aber es ging. Ich war so schwach. Ich konnte nicht mal streicheln. Aber ich dachte: Willkommen. Dann schlief ich wieder ein. Ich schlief lange. Richtig, richtig lange. Und ich schlief gut. Als ich das nächste Mal aufwachte, spürte ich: meine Hände sind warm. Meine Füße auch. Ich blinzelte. Meine Mutter saß an meinem Bett. Sie lächelte. Sie sagte: „Da bist du wieder. Es ist alles gut gegangen. Deine Wangen sind ganz rosig. Wie schön du bist. Papa kommt auch gleich.“ Ich schlief wieder ein. Jeden Tag ging es mir besser. Nach zwei Wochen wurde ich auf eine andere Station verlegt. Dann musste ich wieder laufen lernen. Wie ein Baby. Weil meine Muskeln so schwach waren. Aber ein Muskel war richtig stark. Das konnte ich spüren. Mein neues Herz. Das war ein Knaller. Boah, dachte ich. Was für ein Teil! So reden Männer sonst über Autos. Aber das passte. Mir tat noch alles weh von der Operation. Aber in mir war eine Riesen-Kraft. Mein neues Herz, das sagte mir: Los, los. Wir wollen raus. Wir wollen was machen!

Ich übte laufen. Erst auf dem Gang. Dann die Treppe. Dann draußen. Dann wurde ich entlassen.

Es ging mir gut. Ich bekam mein Leben zurück. Mit warmen Füßen und roten Lippen und Wut im Bauch und Liebe im Herzen. Liebe im Herzen, ja. Das Herz war neu, aber die Liebe noch da. Die zog einfach um. Vom alten Herz ins Neue.

Das neue Herz ist jetzt schon gar nicht mehr so neu. Es gehört seit über einem Jahr zu mir. Eine Sache habe ich ihm versprochen: Das ich ihm zuhöre. Ich weiß es ja nicht. Vielleicht war es ein Mutter-Herz. Oder ein Motorrad-Fahrerinnen-Herz. Oder ein Tänzerinnen-Herz. Ich habe meinem Herz versprochen: das darf es bleiben. Ich lebe für mich. Und für die Mutter und die Tänzerin und für die Motorrad-Fahrerin mit. Weil sie mir ihr Herz geschenkt hat. Einfach so. Mein Leben ist voller Möglichkeiten. Ich höre auf mein Herz.